Unsere letzten Tage in Indien genießen wir mit etwas Luxus. Das B&B liegt in einer vornehmeren Gegend, wo Geld vorhanden ist. Die Unterkunft hat eine Gemeinschaftsterrasse mit Blick auf die Straße. Es ist eine kleine Seitenstraße mit einer gegenüberliegenden Baustelle. Diese Baustelle veranlasste mich jetzt, ein bißchen über die Arbeitskraft in Indien zu schreiben.
Das Durchschnittseinkommen ist zwar in den letzten Jahren etwas gestiegen, aber für die ärmsten Bevölkerungsschichten (vor allem in den ländlichen Gebieten) hat der Produktionsanstieg vielfach noch keine wesentliche Verbesserung des Lebensstandards gebracht. Rund 80 Prozent der Inder verfügen über weniger als 2 US-Dollar am Tag, rund ein Drittel über weniger als einen US-Dollar am Tag. Vom wirtschaftlichen Aufschwung profitierten bisher vor allem die wachsende Mittelschicht, die je nach Abgrenzung auf 100 bis 300 Millionen veranschlagt wird, und die Oberschicht. Nach dem Eindruck vieler Beobachter bleiben die Früchte des Aufschwungs bisher vornehmlich der gut gebildeten städtischen Elite vorbehalten (Quelle Wikipedia). Die Arbeitskraft ist in Indien relativ billig, weshalb sehr viel in Handarbeit geleistet wird. Kein Mensch käme bei uns auf die Idee, einen LKW per Hand mit Bauschutt zu beladen. In Indien ist das üblich.


Auf Fahrrad-Rikschas wird so ziemlich alles transportiert. Wenn es zu schwer ist, wir die Rikscha halt geschoben. Oft wird Knochenarbeit zum Hungerlohn verrichtet. Ungelernte Arbeitskräfte sind froh über jede Rupie, die sie verdienen.

Das führt einem wieder einmal vor Augen, wie wichtig Bildung ist und wie notwendig solche Projekte wie die von "Anand Jeevan" sind. Dass Kinder aus ärmsten Verhältnissen studieren, ist eigentlich unvorstellbar. Der Verein hat es geschafft. Ohne diese Unterstützung wären die Kinder nie aus diesem Teufelskreis der Armut rausgekommen - ihre Zukunft wäre Hilfsarbeiter oder Tagelöhner gewesen.
Während wir auf der Terrasse sitzen und den Bauarbeitern zusehen, beschleicht mich ein komisches Gefühl. Wir genießen gerade ein Luxus-B&B und von dem Geld, was wir für 5 Nächte zahlen, könnte ein Tagelöhner ein ganzes Jahr lang leben ... Das Bild wandelt sich allerdings recht schnell, wenn man die Anwohner in dieser Gegend auf den Straßen betrachtet, die zu der gehobene Mittelschicht Indiens gehören. Die gehobene Mittelschicht führt in etwa so einen Lebensstandard, wie wir ihn in Deutschland kennen. Dicke BMW, Mercedes, Porsche und Range Rover sind hier keine Seltenheit. Und wenn man dann noch bedenkt, dass es in Indien 185 Milliardäre gibt, relativiert sich das schlechte Gefühl ganz schnell. Indien belegt gemäß der Anzahl an Milliardären weltweit den dritter Platz, hinter den USA und China. Im Ranking der Länder nach Personen in extremer Armut belegt Indien weltweit auch den dritten Platz ... Die Schere zwischen Arm und Reich klafft hier in Indien extrem weit auseinander ...

Extremer Luxus und extreme Armut existieren in Indien parallel nebeneinander, was hier auf dem M-Block Market, keine 5 Gehminuten von unserem B&B entfernt, sehr gut zu beobachten war. Die Armut wird von der gehobenen Mittel- und Oberschicht schlichtweg ignoriert und als gottgegeben angesehen. Das Kastensystem geht davon aus, dass man an seiner Armut selber Schuld ist, weil man in seinem vorherigen Leben etwas Schlechtes getan haben muss ...
Die klassische Ordnung des indischen Kastensystems gliedert sich in vier Hauptkasten, so genannte Varnas. Diesen vier Hauptkasten ist je eine Farbe zugeordnet. Schon am Personennamen lässt sich oft die Kastenzugehörigkeit erkennen.

Die Religion des Hinduismus, die in Indien ihren Ursprung hat und der über 80 Prozent der indischen Bevölkerung angehören, bezieht sich stark auf die Varnas und die rituelle Reinheit, die einzelnen Kasten zugewiesen wird. Außerhalb dieser Varnas stehen die "Unberührbaren", die sich selbst als Dalits bezeichnen und sich als Nachfahren der indischen Ureinwohner betrachten. Mehr als 240 Millionen Menschen in Indien gehören der Kaste der Dalit an. Die Dalits gelten nach der religiösen Unterscheidung im Hinduismus immer noch als "unberührbar" und "unrein". Damit sind sie noch heute in vielen Bereichen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und gehen "unreinen" Berufen nach – wie Wäscher, Schlachter und Müllbeseitiger. Die meisten von ihnen leben in Armut.
In den Städten verliert das Kastenwesen an Bedeutung. Zwar ist das Denken in Kasten auch in der Stadt noch sehr verbreitet, zum Beispiel bei der Partnerwahl – aber das System wird durchlässiger. Plätze an Universitäten werden nach einem bestimmten Schlüssel an Dalits vergeben. Solche Begünstigungen führen in der Regel zu Auseinandersetzungen mit Angehörigen der höheren, "reinen" Kasten. Der Aufstieg für Dalits ist also immer noch extrem schwer.
An Stelle der Kasten treten inzwischen immer mehr die sozialen Unterschiede. Wer über ein gutes Einkommen verfügt, fühlt sich der entsprechenden sozialen Gruppe verbunden und weniger seiner Kaste. Für den größten Teil der Bevölkerung, der in Armut lebt, ändert sich dadurch allerdings wenig ... der Aufstieg ist nur über Bildung möglich, aber der Unterricht an den staatlichen Schulen ist extrem schlecht ...
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Elisabeth Tkotsch (Donnerstag, 27 Februar 2025 11:59)
Hallöchen, liebe Patricia und lieber Andreas, ich lese den Reisebericht. mit großen Interesse. Der Protz bei einer unglaublich luxuriösen Hochzeit in unserem Hotel (3 Tage, Amber Fort, Jaipur, Rajastan, 2018) und die Diskrepanz zu der extremen Armut in der Umgebung hatte Matthias und mich auch sehr schockiert.
Das Kastensystem wird natürlich in der jüngeren indischen Literatur sehr kritisch reflektiert, z.B. in Arundhati Roys "The God of Small Things" Humoristische Annäherungen finde ich auch hilfreich. Kennt Ihr schon diesen kleinen Film
https://www.youtube.com/watch?v=jF0oR8TRKHE
Den finde ich sehr gut, er prangert die Absurdität des Kastensystem humorvoll, aber deutlich an.
Liebe Grüße und bis bald einmal,
Elisabeth
P.S. Bin gespannt auf die Ausstellung!